Interview von Silvia Girotto
Nach dem Interview mit Giovanni Sampaolo, Herausgeber von Quarantadue scrittrici e scrittori dell’Austria di oggi, werden jetzt die Interviews an zwei Autorinnen publiziert, deren Texten in der Sammlung übersetzt wurden. Die gewählten Texte haben mit den anderen in der Sammlung verschiedene Themen gemeinsam, insbesondere das Thema der Abwesenheit, aber auch das Treffen von Sprachen und Kulturen oder von unterschiedlichen Perspektiven. Dementsprechend will man sich in diesem Interview auf die Analyse der Möglichkeiten konzentrieren, die vom Treffen mit dem „Fremden“ geboten werden und auch die verschiedenen Situationen betrachten, die in solchen Kontexten erscheinen.
Anna Baar
Die erste interviewte Autorin ist Anna Baar. Der von ihr in Quarantadue scrittrici e scrittori dell‘Austria di oggi übersetzte Text ist ein Abschnitt von ihrem ersten Roman Die Farbe des Granatapfels, der im Jahr 2015 publiziert wurde. Baar wurde in Zagreb 1973 geboren, sie lebte in Wien, verbrachte aber den Sommer auf der dalmatischen Insel Brač. Sie übersiedelte mit der Familie nach Klagenfurt und dort besuchte sie das Gymnasium, in Wien studierte sie und promovierte 2008. Sie schreibt Prosa und Lyrik und ihre Werke wurden in verschiedenen Sprachen übersetzt.
SG: In Quarantadue scrittrici e scrittori dell’Austria di oggi wird immer wieder das Thema der Abwesenheit behandelt. Also etwas, das einen leeren Raum hinterlässt und deswegen spürt man eine Lücke. Wir möchten daher alle Interviews mit derselben Frage beginnen, und zwar: Woran denken Sie, wenn Sie das Wort „Abwesenheit“ hören?
AB: An Sehnsucht und Mangel vor allem. Und an das Gedicht von Paul Celan, in dem es an einer Stelle heißt „Du bist so nah, als weiltest du nicht hier“. Dieser Satz sagt alles: Entfernung schafft eine Nähe, die in der Begegnung nicht glückt. Schlimm ist die Abwesenheit in Gegenwart eines anderen, diese Unachtsamkeit, mit der wir uns oft begegnen.
SG: Im Romanabschnitt, der in Quarantadue scrittori e scrittrici dell’Austria di oggi übersetzt worden ist, werden die Überlegungen der Protagonistin Nada präsentiert, die über die Unterschiede zwischen zwei Ländern nachdenkt: dem Land, wo sie mit seiner Enkelin den Sommer verbringt und dem Land dem Schwiegersohn. Die Abwesenheit, über die sie in diesem Abschnitt spricht, ist die Abwesenheit ihrer Sprache. Die Sprache Nadas ist nämlich konkret, direkt und kann alles zeigen, die andere wird dagegen als fliehend und unklar dargestellt; man kann sie z.B. nicht benutzten, um die Schönheit der Natur zu beschreiben. Das scheint aber, ein Paradox zu sein, denn die „andere“ Sprache ist die deutsche Sprache, die mit einem idyllischen Bild von Sicherheit und Fortschritt verbunden wird. Wie sehen Sie den Kontrast zwischen zwei Sprachen und zwei Ländern, indem Sie auch an Ihrer persönlichen Erfahrung denken?
AB: Jede Sprache galt anders. Keine schien angetan, die jeweils andere Welt befriedigend zu erfassen. Da fällt mir ein schönes Wort ein, nämlich Begriffsstutzigkeit. Und durch den Mangel an Worten gerät auch das Denken ins Stammeln. Es ist ein Privileg, in mehreren Sprachen zu leben, denn in jeder Sprache ist ja immer auch Zuflucht. Ich hatte mich allerdings lange dafür zu schämen, weil meine beiden Sprachen im jeweils anderen Land unter Generalverdacht standen. Als ich schreiben lernte, fühlte ich mich als Verräter. Die Großmutter hasste es ja, wenn ich auf Deutsch auch nur dachte.
Ein Gegensatz der Kulturen war zudem der Umgang mit der eigenen Sprache. In der Großmuttersprache durfte ich herrlich fluchen und im Dialekt sprechen. Im Deutschen war beides verboten. Mein Deutsch musste makellos sein. Ich durfte mich nicht darin suhlen. Es kam mir lange vor wie ein Tretminenfeld: Bloß keine falsche Bewegung!
SG: Dieses Kapitel scheint, Ihre Biographie teils zu wiederholen und zu bearbeiten. Fügen Sie normalerweise in allen Ihren Werken autobiographische Details hinzu? Oder war Die Farbe des Granatapfels ein besonderes Buch, weil es Ihr erster publizierter Roman war? Ist es deswegen auch mit Ihrer persönlichen Geschichte tief verbunden?
AB: Ich sage es lieber so: Alles ist unfrei erfunden, denn die Requisiten für das Erfundene stammen am Ende immer aus dem eigenen Fundus. Ich mag es nicht, nachzuerzählen, was sich wirklich ereignet. Nur greife ich manchmal auf, was mich besonders beschäftigt, um etwas völlig Neues aus dem Erlebten zu machen. Ich mag es, Gegebenheiten schreibend zu verwandeln. Sonst wäre ich wohl Reporter.
SG: Sie nennen verschiedene Gefühle bei Ihrer Beschreibung der beiden Sprachen. Würden Sie zustimmen, dass jede Sprache uns ermöglicht, verschiedene Seiten des Individuums zu zeigen?
AB: Ja, das glaube ich. Jede Sprache kleidet auf sehr eigene Weise. Ich habe in meinem Roman einmal die Mutter beschrieben, die mir auf Deutsch Furcht einjagte, wenn sie uns Kinder schimpfte. In ihrer Muttersprache schien sie mir weich und harmlos, auch wenn sie manchmal fluchte.
SG: Es fällt leicht in diesem Text, eine Idealisierung Österreichs zu identifizieren: Es wird als ein Land voller Hoffnung gesehen, es handelt sich in vielerlei Hinsicht um einen sicheren Ort. Glauben Sie, dass sich diese Idealisierung Österreichs auch heutzutage noch in der Meinung der Menschen wiederspiegelt?
AB: Was ich beschrieben habe, ist die Sicht eines Kinds. Und diesem Kind, das dem Tod nur im archaischen Inseldorf begegnet, muss Österreich mit seinen Krankenhäusern und Rettungsfahrzeugen als sicherer Ort erscheinen. Das ist keine Idealisierung, sondern Realität: Österreich ist bei allen Peinlichkeiten, die Politik und Gesellschaft aufbieten, eines der reichsten und sichersten Länder der Welt. Obwohl ich natürlich ständig auf irgendwelche Miseren hinweise, schätze ich mich glücklich, in diesem Land zu leben. Andere riskieren ihr Leben, um hier eine Heimat zu finden.
SG: In dem von Paola del Zoppo übersetzten Text werden einige Wörter nicht übersetzt, wie z.B. pazar, kora und kruška und es ist keine Anmerkung vorhanden. Was ist Ihre Meinung zu dieser Entscheidung? Was sogenannte „unübersetzbare Wörter“ betrifft, welche Lösung ziehen Sie vor: das Wort zu paraphrasieren oder das originale Wort zu behalten, vielleicht mithilfe einer Anmerkung?
AB: Bei den Worten und Redewendungen, die unübersetzt und daher wie kleine oder größere Stolpersteine im Text stehen, geht es nur um den Sound, eine kurze Verstörung. Ich meine, es ist dem Leser zumutbar, aus dem Fluss geworfen zu werden, genauso ratlos und befremdet dazustehen, wie die Figuren im Text, selbst eine liebe Not mit der Sprache zu haben. Wenn das Verständnis unbedingt notwendig ist, wird eben übersetzt. Meistens geht die Bedeutung aus dem Kontext hervor. Die unübersetzbaren Worte sind mir oft so lieb, dass ich sie stehenlasse, aber so in den Text bette, dass sie dort klingen können.
Susanne Gregor
Susanne Gregor ist Autorin der Romane Kein eigener Ort (2011), und Territorien (2015) und der Erzählungssammlung Unter Wasser (2018). Sie wurde 1990 in Žilina, in der Slowakei, geboren. Sie übersiedelte mit der Familie nach Oberösterreich und studierte Germanistik und Journalismus in Salzburg. Als Professorin arbeitete sie an der University of New Orleans, aber jetzt lebt sie seit 2005 in Wien. Sie erhielt 2009 den Hohenemser Literaturpreis und 2010 den Exil-Literaturpreis.
SG: In der Sammlung von Professor Sampaolo Quarantadue scrittrici e scrittori dell’Austria di oggi wird immer wieder das Thema der Abwesenheit behandelt. Also etwas, das einen leeren Raum hinterlässt und deswegen spürt man eine Lücke. Wir möchten daher alle Interviews mit derselben Frage beginnen, und zwar: Woran denken Sie, wenn Sie das Wort „Abwesenheit“ hören?
SGr: Als erstes fällt mir dazu ein, dass gerade das Abwesende besonders oft mitgedacht wird, oft viel mehr als das Anwesende. Das gilt besonders für Menschen, Orte, Dinge, die man vermisst. Und wenn man sie nicht vermisst, ist ja gar keine „Lücke“ in dem Sinn vorhanden, man würde keine Leerstelle fühlen.
Deshalb frage ich mich, wie abwesend etwas wirklich sein kann, bloß weil es physisch nicht da ist?
SG: Im Abschnitt aus dem Roman Territorien wird die Abwesenheit der Heimat analysiert, also eine physische Abwesenheit. Sie sind mehrmals umgezogen, aber gibt es einen Ort, den Sie besonders vermissen und wohin sie oft zurückkehren möchten?
SGr: Ich möchte zuerst etwas zum Thema „Abwesenheit der Heimat“ sagen: Ich denke nicht in diesem Sinn über Orte nach, obwohl das in meinen Texten oft ein Thema ist. Ich habe in meiner Kindheit gelernt, dass Heimat ein flexibler Begriff ist, absolut ersetzbar und am besten im Plural zu denken ist. Dass man Heimat noch immer nur im Singular begreift, entspricht nicht mehr unserer heutigen Zeit – einer Zeit der multiplen Identitäten, doppelten Staatsbürgerschaften, mehreren parallelen Muttersprachen, etc. Wir leben in einer Zeit, in der man sich nicht mehr entscheiden muss zwischen der einen Religion oder der anderen, dem einen Land oder dem anderen, man muss sich nicht festlegen bei der sexuellen Orientierung, ja nicht einmal mehr bei der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht. Es ist unsere neue Realität geworden, dass es Nuancen gibt, dass Komplexität ausgehalten werden kann. Und weil die Literatur immer die Entwicklungen in unserer Gesellschaft spiegelt, findet sich all das auch in den zeitgenössischen Werken wieder -oder besonders da. Denn gerade die Literatur ist es doch, die den Menschen in seiner Komplexität darstellt und untersucht, mit all seinen Widersprüchen und die die Grenzen verwischt und unseren Horizont für Neues öffnet.
Es gibt aber einen Ort, an den ich persönlich gern zurückkehre, und der hat nichts mit Heimat zu tun: Die Insel Malta ist für mich ein magischer Ort, an dem ich besonders gut bei mir ankommen kann. Ich vermisse diesen Ort nicht, fahre aber von Herzen gerne hin.
SG: Zu den ersten Themen, die man im Abschnitt aus Territorien finden kann, gehört die Sehnsucht nach der Heimat. Die männliche Figur, Samuel, hat Nicaragua verlassen und versucht jetzt, in Österreich zu leben, doch kann er die schönen Erinnerungen seiner Heimat nicht ersetzen. Sie selbst haben die ersten neun Jahre Ihres Lebens in der Slowakei verbracht: Obwohl es sich nicht um ein fernes Land handelt, basierten diese Beschreibungen von Samuels Gefühle auf Ihren persönlichen Emotionen? Oder beziehen Sie sich auf den Abschied von Wien, als sie an der University of New Orleans Professorin waren?
SGr: Ich unterrichte neben dem Schreiben Deutsch als Fremdsprache an der Universität Wien, wo ich natürlich mit vielen Menschen arbeite, die ihre Heimat vermissen und ich habe auch in meinem privaten Umfeld viele Freunde und Bekannte aus anderen Ländern, und es fasziniert mich immer wieder zu beobachten, wie sie sich im Ausland mit ihren Heimatländern und den eigenen kulturellen Prägungen auseinander setzen, und wie leicht es den Leuten manchmal fällt, ihre Herkunftsländer nostalgisch zu verklären. Diese Nostalgie hat mich immer interessiert, weil ich sie selbst nie empfunden habe, weder nach meinem Umzug nach Österreich, noch bei meinen Auslandsaufenthalten. Ich bin mir bewusst, wie pragmatisch das klingt, aber für mich gibt es ausschließlich praktische Gründe, an einem Ort zu wohnen, und nicht an einem anderen. Diese Verklärung kann ich nicht nachvollziehen. In „Territorien“ habe ich sie literarisch untersucht, ich habe sie Samuel angehängt und ich habe Emma dagegenhalten lassen und ein Spannungsfeld zwischen Sentimentalität und Pragmatismus geschaffen. Ich glaube in diesem Spalt finden sich gerade in der heutigen Zeit viele Leute wieder.
SG: Es gibt in diesem Abschnitt ein Wort, das uns besonders interessiert, und zwar „Rituale“. Wie wichtig sind sie, wenn man über Nostalgie und Sehnsucht spricht?
SGr: Rituale haben etwas Schönes, Beruhigendes, können aber gefährlich werden, wenn sie sich sinnentleert verselbstständigen, was oft passiert. Rauchen zum Beispiel ist ja auch bloß ein Ritual. Ich würde gern denken, dass ich lieber Neues probiere und im Moment lebe, als Ritualen zu folgen. Ich sehe aber besonders bei meiner neunjährigen Tochter, wie viel Sicherheit uns unsere täglichen Rituale vermitteln und ich denke, dass wir sie in unserem Leben brauchen, um Stabilität zu schaffen.
Instinktiv wende ich mich aber eher gegen dieses Wort ab, es ist für mich mit Stagnation behaftet, mit Starre und Stillstand.
SG: Die nächsten Fragen beziehen sich auf die Übersetzungen von Professor Sampaolo und seinen Studierenden. Die erste hat mit Unterschieden zwischen Sprachen zu tun: Wie treu kann eine Übersetzung sein? Kann Ihrer Meinung nach eine Übersetzung als ein selbständiges Werk betrachtet werden? Oder bleibt sie immer mit dem Originalen verbunden?
SGr: Ich denke, dass sie auf jeden Fall mit dem Original verbunden bleibt, mit ihm vielleicht in einer Art Dialog steht. Generell finde ich Originale aber oft überbewertet, man muss nicht gezwungenermaßen den Originaltext lesen, nur weil er der Absicht des Autors/der Autorin am nächsten ist. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Autor/die Autorin als Einzelperson, in seiner/ihrer Sicht und Sprache beschränkt ist. Eine Übersetzung kann weitere Perspektiven eröffnen und den Text vom Autor/von der Autorin loslösen, sodass das Werk um weitere Nuancen bereichert wird -um Nuancen, die der Autor/die Autorin niemals im Text hätte sehen können.
Ich sehe meine Bücher ohnehin nicht als ein statisches Endergebnis, denn: Das Schreiben an sich stellt schon einen Übersetzungsprozess dar und zwar eine Übersetzung des Gedankens in die Sprache. Dadurch bewegt sich der Text schon beim Schreiben in seinen ständigen Übertragungen hin und her und bewegt sich dann beim Lesen (durch die Interpretation des Lesenden) noch einmal weiter. Eine Übersetzung ist bloß eine weitere Bewegung innerhalb dieses Prozesses, der aber ohnehin ein dynamischer ist.
SG: Wie schätzen Sie sogenannten „unübersetzbaren Wörter“ ein? Würden Sie bei der Übersetzung von einem Ihrer Werke lieber eine Umschreibung oder das originale Wort lesen, zum Beispiel mit einer Anmerkung?
SGr: Das Einbringen von originalen Wörtern aus einer anderen Sprache (also mit Anmerkung), aus welchem Grund auch immer (ob es sich nun um “unübersetzbare” Wörter handelt oder um ein stilistisches Werkzeug des Autors/der Autorin), finde ich persönlich in Texten sehr bereichernd. Einerseits lenken sie die Aufmerksamkeit der Lesenden auf die Form des Texts und die Norm der Sprache, weil diese Abweichung auf die Struktur des Textes hinweist, die zuvor als selbstverständlich wahrgenommen wurde. Andererseits fordern solche Texte die Gewohnheiten des Lesens heraus, indem sie die Lesenden vor neue Herausforderungen stellen. Man erfährt so direkt im Leseprozess das Gefühl des Andersseins, anstatt nur eine Beschreibung dieser Erfahrung zu lesen. Ich finde, dass die Toleranzgrenze für solche Interferenzen einer anderen Sprache in der zeitgenössischen Literatur so hoch ist wie nie zuvor.
Bilder:
Bild 1: https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/literatur/2104887-Um-sich-kreisende-Erzaehlungen-Nil-von-Anna-Baar.html
Bild 2: https://de.wikipedia.org/wiki/Susanne_Gregor